Meldungsdatum: 10.08.2022
„Nach dem Ende des 1. Weltkrieges herrschte in Bocholt eine Zeit der Unsicherheit. Soldaten kehrten aus dem Weltkriege heim, viele Familien litten Hunger und Not. Zahlreiche ‚Hamsterer‘ durchzogen die umliegenden Bauernschaften auf der Suche nach etwas Essbarem“, erklärte Historiker Marius Lange zu Beginn seines Vortrags. Die Folge: unzählige nächtliche Diebstähle und Raubüberfälle. Vor diesem Hintergrund ereignete sich Anfang 1919 eine Schreckenstat in Hemden, die die Bevölkerung in Aufruhr versetzte, so Lange.
Gebannt lauschten die Besucherinnen und Besucher aller Altersgruppen im gut gefüllten Hemdener Saal dem Vortrag. Denn in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1919 durchdrangen zwei Schüsse die nächtliche Stille in Hemden. Die Töchter des Hofes Nienhaus gnt. Mispelkamp eilten sofort aus ihren Betten, um mutmaßliche Einbrecher zu stellen.
In einem Schlafzimmer fanden sie ihre Eltern augenscheinlich schlafend vor. Erst bei näherer Betrachtung erkannten sie, dass Anton und Maria Nienhaus in ihrem Bett erschossen worden waren. Der Sohn Heinrich nahm sich sofort ein Gewehr und verfolgte die vermeintlichen Täter. Draußen kam es zwischen diesen zu einem Schusswechsel, doch die Täter konnten unerkannt entkommen - so stellte Lange die Tatrekonstruktion der Polizei vom nächsten Morgen dar. Auch eine von ihm angefertigte Zeichnung erläuterte die räumliche Situation im Haus.
Jahrelange Ermittlungen
Die Verfolgungsbehörden vernahmen sodann viele Zeugen: die Familie, Nachbarn, Freunde. Doch auf eindeutige Spuren zu den Tätern stießen sie nicht. DNA-Proben und weitere moderne Ermittlungsmethoden gab es schließlich noch nicht. Lange benannte viele Verdächtige: den Sohn Heinrich Nienhaus, Einbrecher und weitere Kriminelle. Für eine Verurteilung reichte es jedoch nie.
Nach mehreren Jahren intensiver Polizeiarbeit kamen die Ermittlungen beinahe zum Erliegen, stellte Lange fest, der die originalen Ermittlungsakten eingesehen hatte.
Erst "Kommissar Zufall" gelang viereinhalb Jahre nach der Tat die Überführung des Täters. Nicht die Polizei, sondern ein "auswärtiger Detektiv" hatte so viel Indizien zusammengetragen, dass der Sohn Heinrich abermals verhaftet wurde.
Der Tatvorwurf: Der Schusswechsel mit den vermeintlichen Tätern war inszeniert, Nienhaus hatte sich in den Besitz des elterlichen Hofes bringen wollen und seine Eltern aus dem Weg geschafft, die der Verehelichung mit seiner Partnerin nicht zugestimmt hatten. Heinrich Nienhaus wurde letztlich auf Grund zahlreicher belastender Indizien schuldig gesprochen. Das Urteil lautete: Todesstrafe für den sog. "Elternmörder".
Deportation nach Polen
Nienhaus gab sich damit nicht zufrieden. Um sein Leben zu retten, reichte ein Gnadengesuch ein. Dem wurde nach einer langen Debatte entsprochen. Nienhaus erhielt eine lebenslängliche Zuchthausstrafe. Nach 15 Jahren hätte er aus der Haft entlassen werden können. Doch während des Zweiten Weltkrieges benötigten die Nationalsozialisten innenpolitische Ruhe, so Lange.
Weiter hielten sie Nienhaus für einen sog. "Berufsverbrecher", der sein Leben in der NS-"Volksgemeinschaft" verwirkt habe. Letztlich kam beides einem Todesurteil gleich: Anfang 1944 verstarb Nienhaus keine drei Wochen nach seiner Deportation im Konzentrationslager Majdanek in Polen.
Im Anschluss an den Vortrag beantwortete Dr. Lange noch viele weitergehende Fragen rund um den Kriminalfall aus Hemden und seine Aufklärung und auch danach diskutierten viele Besucherinnen und Besucher noch weiter in kleineren Gruppen und ließen den Vortrag noch nachklingen.
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