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Presseinformation

30. August 2023
jobcenter Kreis Steinfurt: Junge Menschen fallen durchs Netz
Zuständigkeitswechsel führt zu größerem Bürokratieaufwand

Kreis Steinfurt. Nadine, 16 Jahre, ist in ihrem zweiten Ausbildungsjahr zur Einzelhandelskauffrau. Es läuft gut für sie. Das war nicht immer so. Denn Nadine ist eine sogenannte Schulverweigerin.

 

Ihre Probleme begannen in der siebten Klasse: Konflikte mit den Mitschülerinnen und Mitschülern, Auseinandersetzungen mit Lehrern, unentschuldigte Fehlzeiten und schließlich die Versetzungsgefährdung. Doch Nadine schafft es, trotz zunehmender Fehlzeiten und schlechter werdenden Leistungen, bis in die 9. Klasse versetzt zu werden. Dann kommt es zur totalen Verweigerung des Schulbesuchs.

 

Fälle wie dieser beschäftigen das jobcenter Kreis Steinfurt immer wieder. Die kommunale Behörde kann mit ihren Partnern gut darauf reagieren. Im Fall von Nadine hilft das Angebot von Dock 14 des kommunalen Jobcenters. In Absprache mit ihrer Schule nehmen die Pädagogen von Dock 14 behutsam Kontakt zu ihr und ihren Eltern auf. In wöchentlichen Gesprächen bei ihr zu Hause öffnet sich Nadine und vertraut sich den Pädagogen an. Gemeinsam und in engem Austausch mit Eltern und Schule suchen sie nach Lösungen. Zusätzlich binden sie eine Kinder- und Jugendpsychiatrische Einrichtung ein. In Abstimmung mit ihrer Klassenleitung, der Schulsozialarbeit, der Schulleitung, den Eltern, den Dock 14-Pädagogen nimmt Nadine zunächst wieder vereinzelnd am Unterricht teil. Parallel geht sie mit den Dock 14-Mitarbeitenden zur Berufsberatung und durchläuft mit ihrer Unterstützung den Bewerbungsprozess für ihren jetzigen Ausbildungsplatz.

 

Künftig keine Chance für Schulverweigerer

Ein holpriger Start ins Berufsleben, der allerdings dank des jobcenter Kreis Steinfurt geglückt ist. Andere Schülerinnen und Schüler mit ähnlichen Problemen oder anderen Hemmnissen drohen künftig zu scheitern, warnt das Jobcenter jetzt besorgt. Der Grund: Bundesarbeitsminister Hubertus Heil plant, künftig Menschen unter 25 Jahren statt durch die Jobcenter von den Arbeitsagenturen betreuen zu lassen, wenn es um ihre berufliche Eingliederung geht.

Was sich für Außenstehende für eine schlichte Zuständigkeitsänderung anhört, hat für die betroffenen jungen Menschen und oftmals auch für deren Familie spürbare Auswirkungen. Denn nur der Förderkatalog der Jobcenter bietet individuelle, niedrigschwellige, aufsuchende und sozialräumliche Hilfen, wie beispielsweise Dock 14. Der Gesetzgeber hat diese Möglichkeiten im System der Arbeitslosenversicherung überhaupt nicht vorgesehen. Insbesondere junge Menschen, wie Nadine, mit multiplen Schwierigkeiten können also zukünftig nicht mehr aufgefangen und individuell gefördert werden.

 

„Wir dürfen ihnen künftig keine Angebote mehr machen und die Agentur für Arbeit kann es nicht, weil die gesetzliche Grundlage und die notwendigen Strukturen im System der Arbeitslosenversicherung dazu fehlen“, erklärt Tanja Naumann, Arbeitsmarktvorstand des jobcenter Kreis Steinfurt das Dilemma. Diese Strukturen aufzubauen, weiß sie aus Erfahrung, dauert Jahre. Zeit, die diese Generation nicht hat. Im Kreis Steinfurt, so die Vorständin, seien davon rund 3.000 junge Menschen betroffen, bundesweit seien es 700.000, deren Zukunftschancen durch die Umstrukturierung unnötig geschmälert werden.

 

Darüber befürchtet Naumann, dass der Bundesminister seine eigene Bürgergeldreform durch diese Umstrukturierung konterkariert. „Der Zuständigkeitswechsel durchbricht die absolut sinnvolle ganzheitliche Betreuung der Familien durch uns Jobcenter vor Ort. Obwohl wir die Verhältnisse von Eltern und Kindern kennen, können wir dann nicht mehr die ganze Familie betreuen.“

 

Mehr Bürokratie für junge Menschen

„Statt Leistungen aus einer Hand zu bieten, wird für die Betroffenen mehr Bürokratie geschaffen“, bilanziert Thomas Robert Vorstand des jobcenter Kreis Steinfurt nüchtern. Denn tatsächlich haben junge Menschen aus armen Familien dann mit mehr denn weniger Behörden zu tun. Bislang erhielten sie sowohl ihren Lebensunterhalt als auch die Betreuung für die Ausbildungsvermittlung von einer Stelle: dem zuständigen Jobcenter. Im Kreis Steinfurt gibt es in jeder Kommune eine zuständige Stelle. Zukünftig müssen sie in finanziellen Angelegenheiten zum Jobcenter, während die Arbeitsagentur, die derzeit nur über sechs Standorte im Kreisgebiet verfügt, die Arbeitsvermittlung und Berufsberatung für sie übernimmt. Die Erreichbarkeit dieser Standorte, befürchtet Robert, könne ein großes Hindernis für die jungen Menschen darstellen. „Viele von ihnen drohen verloren zu gehen und somit langfristig in den Sozialsystemen zu verharren“, so Robert.

 

Lokale Strukturen werden unnötig aufgegeben

Hier werde ein gut funktionierendes Hilfesystem für junge Menschen auseinandergerissen und auf zwei Behörden verteilt, kritisiert Naumann. Sie befürchtet, dass Jugendlichen und jungen Erwachsenen wie Nadine dann nicht mehr die nötige Hilfestellung geboten werden kann. „Wir sind seit 2005 Anlaufstelle für diese Personen und deren Eltern“, führt Naumann weiter aus. „Seitdem haben wir ein breites kommunales Unterstützungsnetzwerk aufgebaut, in dem unter anderem Beratungsstellen, Unternehmen, Jugendämter und Arbeitergeberverbände mit uns zusammenarbeiten.“ Daher können die Mitarbeitenden des Jobcenters immer wieder individuelle Lösungen im häuslichen oder lokalen Umfeld anbieten. Dass diese notwendig sind, weiß Naumann aus Erfahrung: „Die Problemlagen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind so vielseitig, dass wir ihnen mit standardisierten Angeboten nicht weiterhelfen würden. Wir müssen jeden einzelnen in den Blick nehmen.“ Die Politik, kritisiert Naumann, verkenne diesen erheblichen Unterstützungsbedarf der aktuell von den Jobcentern betreuten jungen Menschen. „Gerade sie profitieren von unserer Expertise, unserer lokalen Präsens und unseren örtlichen Netzwerken“ so Naumann und weiter: Das alles werde jetzt unnötig zerschlagen.

 

Staat spart zulasten von Arbeitnehmenden

Der Grund dafür ist denkbar einfach: Der Zuständigkeitswechsel der unter 25-Jährigen führt zu Einsparungen im Haushalt des Sozialministeriums in Höhe von 900 Millionen Euro. „Wobei Sparen hier das falsche Wort ist“, so die Vorstände des Jobcenters. Denn tatsächlich werden die Gelder nicht eingespart. Bundesminister Heil plant, dass künftig nur noch sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmende und Unternehmen dafür zahlen sollen. Die Finanzierung wird künftig aus Mitteln der Arbeitslosenversicherung bestritten statt aus dem Bundeshaushalt.




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