Nr. 233 Kreis Steinfurt, 24. Juli 2024

Wer steht an meiner Seite? – Fachtag mit Blick auf Kinder psychisch und/oder abhängigkeitserkrankter Eltern

Tilman Fuchs: „Etwas gemeinsam auf den Weg bringen mit den Trägern, mit den Beschlüssen aus der Politik – da hätte ich Spaß dran.“

Kreis Steinfurt. Statt zu spielen, zu malen oder sich mit Freunden zu treffen, sind Kinder psychisch oder abhängigkeitserkrankter Eltern oft zuhause gefordert: Sie kümmern sich um Einkauf, Mahlzeiten und jüngere Geschwister und übernehmen damit die Aufgaben bzw. die Verantwortung von Mama oder Papa. Diese Kinder standen im Blickpunkt beim Fachtag „Wer steht an meiner Seite?“, zu dem der Kreis Steinfurt und die LWL-Klinik Lengerich ins Steinfurter Kreishaus eingeladen hatten. Gemeinsames Ziel: Etablierte Strukturen im Kreis Steinfurt zu verbessern und zusammenzuführen.

 

„Wer steht an meiner Seite? – Die ‚eine‘ Antwort gibt es auf diese Frage nicht, denn ganz viele Institutionen sind involviert“, machte Tilman Fuchs, Dezernent für Schule, Kultur, Sport, Jugend und Soziales des Kreises Steinfurt gleich zu Beginn deutlich. Er dankte den vielen anwesenden Vertreterinnen und Vertretern aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe sowie Gesundheit für die Teilnahme und zeigte sich optimistisch: „Wenn ich sehe, wer hier heute alles ist, dann ermutigt mich das, dass wir gemeinsam gute Ideen, gute Angebote entwickeln können.“

 

Die LWL-Klinik Lengerich habe die Kinder als Angehörige seit 2019 verstärkt im Fokus, berichtete Mechthild Bischop, Pflegedirektorin der LWL Klinik Lengerich. Die Klinik habe deshalb intern einen Qualitätszirkel aufgebaut und biete seit zwei Jahren eine monatliche Beratung für die Eltern an, um ein niedrigschwelliges Angebot zu ermöglichen. „Das Beratungsangebot kommt Eltern entgegen, die in Sorge sind, dass die Kinder möglicherweise nicht in der Familie verbleiben, wenn sie sich an Jugendämter und Beratungsstellen wenden.“ Die Termine seien immer ausgebucht.

 

Über bedarfsgerechte Zugangswege zu bestenfalls präventiven, überlappenden Hilfsangeboten für Kinder und Eltern referierte aus wissenschaftlicher Sicht Dr. Koralia Sekler, Geschäftsführerin beim AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe. Diese seien grundsätzlich nötig, um Familien rechtzeitig zu erreichen. Ihre Erfahrung: „Aus der Kinder- und Jugendhilfe erreichen wir die Kinder häufig erst bei einer Meldung von Kindeswohlgefährdung. Das ist Intervention, da sind wir nicht im präventiven Bereich.“ Jedes vierte bis fünfte Kind in Deutschland habe mindestens ein suchtbelastetes Elternteil. Etwa 50 Prozent psychisch erkrankter Eltern entwickelten im Laufe ihres Lebens eigene Auffälligkeiten und 30 Prozent davon wiesen klinische Diagnosen auf, berichtete Sekler und bezog sich damit auf Erhebungen der Professorin Dr. Silke Wiegand-Grefe. Was jede Kommune aus Seklers Perspektive brauche, sei eine Analyse der lokalen Gegebenheiten und vorhandenen Angebote. Sie wies für die Präventionsarbeit im Kreis Steinfurt auf 19 Handlungsempfehlungen hin, die eine Arbeitsgruppe auf Bundesebene erarbeitet hat.

 

Die Familie als ein System in den Blick zu nehmen und sinnvolle Hilfsangebote zu bündeln, sollte selbstverständlich sein, beinhalte jedoch zahlreiche sichtbare und unsichtbare Hürden, wie Annita Cladder-Micus, Koordinatorin Kommunale Präventionskette im Jugendamt des Kreises und Organisatorin des Fachtags, in einem einfühlsamen Interview mit Jennifer Böhning feststellte. Nach einem Zusammenbruch vor drei Jahren habe sie die Diagnose einer chronischen psychischen Erkrankung erhalten, die ihr klarmachte, dass ihre Probleme seit ihrer Kindheit bestehen, so Böhning. Mit dem Klinikaufenthalt kamen drei weitere hinzu. „Krankheit, Kinder und der Jobverlust“, zählte die reflektierte 43-Jährige auf. Sehr emotional schilderte sie, wie sie neben der sich dadurch ergebenden finanziellen Abwärtsspirale als Alleinerziehende und Sorgeberechtigte nach ihrem Zusammenbruch zusätzlich Auflagen erfüllen bzw. Nachweise habe erbringen müssen, dass sie psychiatrische Hilfen erhält. Gerne hätte sie mit ihren Kindern eine zweite Mutter-Kind-Kur gemacht, was verweigert wurde, weil das älteste Kind mit 15 Jahren das Höchstalter dafür überschritten hatte. „Gemeinsame Freizeitangebote wären schön“, antwortete sie auf die Frage nach ihren Wünschen für Hilfen.

 

16 Jahre alt war Irmela Boden, als ihr Vater psychisch erkrankte. „In der Familie wurde nicht darüber gesprochen. Alle haben geschwiegen und das Familiengeheimnis gewahrt“, erzählte die heute selbstbewusste, wortgewandte 76-Jährige im Interview mit der Moderatorin des Fachtags Stephanie Heinrich.  Boden hatte nach 50 Jahren ihr Schweigen gebrochen und ist inzwischen Vorstand des Seelenerbe e. V., einem Verein für erwachsene Kinder psychisch erkrankter Eltern. Aus ihrem Engagement heraus weiß sie, dass das Nicht-darüber-sprechen immer noch in Familien so ist. „Das erschüttert schon sehr, sodass wir im Verein auch ermöglichen, dass man anonym Mitglied sein kann. Nachrichten werden immer in Blindkopie verschickt“, sagte Irmela Boden. Im Verein traue man sich an Themen, die vorher unsagbar waren und die die Schamesröte ins Gesicht trieben, so Boden weiter. Scham spiele oft eine große Rolle, warum Hilfen in einem frühen Stadium nicht angenommen werden, ebenso wie Ängste und Verunsicherungen, da waren sich alle Mitwirkenden einig.

 

In der sich anschließenden offenen Diskussion haben Teilnehmende erste Ideen für niedrigschwellige Unterstützungsangebote zusammengetragen: Unter anderem soll Familien ein Coach bzw. Lotse zur Seite stehen, der sich als Schnittstelle der verschiedenen Institutionen versteht und Hilfen koordiniert.  Bezugnehmend auf den Vortrag der AFET-Vorsitzenden Sekler sieht Dezernent Tilman Fuchs zunächst noch kein Gesamtkonzept für den Kreis. Neben einer Netzwerkanalyse möchte er vorher etwas Praktisches wie beispielsweise Freizeiten entwickeln: „Etwas gemeinsam auf den Weg bringen mit den Trägern, mit den Beschlüssen aus der Politik – da hätte ich Spaß dran.“ Wohlwissend, dass das Vorhaben ambitioniert ist. Deshalb auch seine Aufforderung an die Anwesenden: „Wir brauchen Sie alle hier mit Ihrem Institutionsblick. Und dann irgendwann möglicherweise auch mit Ihren Ressourcen. Wir haben an manchen Stellen schon was vorzuweisen. Guter Boden, um da weiterzumachen.“


Zu dieser Meldung können wir Ihnen folgende Medien anbieten:

Wer steht an meiner Seite?

©  Dorothea Böing, Kreis Steinfurt
Wer steht an meiner Seite?

Annita Cladder-Micus (l.), Koordinatorin Kommunale Präventionskette, sprach mit Jennifer Böhning unter anderem über ihre Erfahrungen nach der Diagnose.


Wer steht an meiner Seite?

©  Dorothea Böing, Kreis Steinfurt
Wer steht an meiner Seite?

Am Ende des Fachtags haben Teilnehmende erste Ideen für niedrigschwellige Unterstützungsangebote zusammengetragen.