Meldungsdatum: 12.12.2024
Über vier Jahre lang haben die Wirtschaftshistoriker*innen in den Archiven der Unternehmen, der Emscher-Städte, des Landes Nordrhein-Westfalen und der Emschergenossenschaft die bisher unbeleuchteten Aspekte aus der Vergangenheit des Verbandes recherchiert. Bereits die Gründung der Emschergenossenschaft und ihre rechtliche Konstruktion betrachten die Autor*innen als einen der spannendsten Abschnitte in ihrer Geschichte. Wie wurde diese Konstruktion ersonnen und welche Interessen bildeten sich darin ab? Warum brauchte es überhaupt eine Emschergenossenschaft? „Um es kurz zu machen: Federführend in der Gründungsdiskussion waren die Südstädte im Industrierevier nebst den mächtigen Landräten in den dortigen Kreisen. Gemeinsam mit den Unternehmen schmiedeten sie sich eine selbstverwaltete ‚Bad Bank‘, die die Verantwortung externalisieren und den Schmutz aus dem Industrierevier schaffen sollte“, sagt Eva-Maria Roelevink, Professorin für Wirtschaftsgeschichte und Industriearchäologie an der Technischen Universität Bergakademie Freiberg.
Die Lösung war eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, die in einem hohen Maß selbständig und selbsttätig agieren konnte. Profiteure dieser neuen „Genossenschaft“ waren laut der Wissenschaftler*innen vor allem die großen Südstädte der Region: wie z.B. Dortmund, Bochum, Essen oder Duisburg und die Unternehmen. Die Ruhr wurde sauber und durfte der Region später sogar ihren Namen geben, während die Emscher für die (Industrie-)Abwässer der gesamten Region geopfert wurde. Ohne dieses Opfer wäre, so beschreiben es Roelevink und Budrass, das Wachstum von Industrie und Bergbau der Region so nicht möglich gewesen. Das Ruhrgebiet in der Form, wie wir es heute kennen, hätte es ohne Gründung der Emschergenossenschaft daher vermutlich nicht gegeben.
Emscher teilte Region in den reichen Süden und den schmutzigen Norden
Die effektive Teilung in ein südliches (angenehmes, schönes) und nördliches (vernachlässigtes, ignoriertes und „dreckiges“) Ruhrgebiet sei also eine Konsequenz des Umbaus der Emscher zur Cloaca Maxima. Die Autor*innen beschreiben diesen gezielten Eingriff als eine bewusste Entscheidung zur Zweiteilung der Sozialstruktur des rheinisch-westfälischen Industriebezirks, welche die Entstehung eines „Ruhrgebietes“ überhaupt erst ermöglichte. „Die Emschergenossenschaft war deshalb Teil einer ‚inneren Kolonisierung‘ des Industriegebiets, wie wir sie nennen“, sagt Dr. Lutz Budrass von der Ruhr-Universität Bochum. Die Nord-Süd-Trennung entstand mitnichten durch die heutzutage vielzitierte A40, die mitten durch die Region führt – vielmehr war es die abwasserführende Emscher, die als „flüssig-toxische Demarkationslinie“ festgelegt wurde.
Aus den Recherchen der Wissenschaftler*innen will die Emschergenossenschaft Lehren ziehen. „Wir sehen die Erkenntnisse aus der Publikation als Auftrag, mehr denn je die Fehler der Vergangenheit wiedergutzumachen. Der Emscher-Umbau war der erste Schritt – die Basis – für diesen Wandel. Wir betrachten es als unsere Pflicht, den Norden des Ruhrgebietes sozial und ökologisch wiederaufzuwerten, sodass es zukünftig keinen Nord-Süd Unterschied mehr geben wird – weder durch die A40 noch durch die Emscher“, sagt Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft.
Die wissenschaftlich fundierte Rückschau auf die Vergangenheit zeigt, dass es sich lohnt, die eigene Geschichte immer wieder auch kritisch zu hinterfragen. So interessant und überraschend es aus heutiger Perspektive erscheint, warum die Emschergenossenschaft genau in dieser Form entstanden ist und welche Beweggründe dahinterstanden – eines bleibt dabei dennoch unverändert: Die technische Ausgangslage für die Regulierung der Emscher und ihrer Nebenläufe war mit der Abwassermisere infolge der Industrialisierung und des Bergbaus – und vor allem nach der Entscheidung zur Gründung der Emschergenossenschaft – unumstritten. „Mit der Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts stiegen die Bevölkerungszahl und die anfallenden Abwassermengen rasant an. Wegen des Bergbaus konnten keine unterirdischen Kanäle gebaut werden, die Emscher-Gewässer wurden als Kloaken gebraucht und missbraucht. Die Folge waren Überschwemmungen mit ungereinigten Abwässern. Der technische Ausbau der Emscher-Gewässer zu offenen Schmutzwasserläufen war daher alternativlos“, sagt Dr. Frank Obenaus, Technischer Vorstand der Emschergenossenschaft.
Die Publikation ist Open Access verfügbar und kann mit Eingabe des Buch-Titels oder der ISBN auf der Seite des transcript Verlages (transcript-verlag.de) kostenfrei heruntergeladen werden.
(v.l.) Prof. Eva-Maria Roelevink (Technischen Universität Bergakademie Freiberg), Prof. Uli Paetzel (Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft), Dr. Frank Obenaus (Technischer Vorstand der Emschergenossenschaft) und Dr. Lutz Budrass (Ruhr-Universität Bochum) stellten gemeinsam die neue Publikation „Die Macht der Entwässerung – die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebiets“ im BernePark in Bottrop vor.
„Die Macht der Entwässerung – die Emschergenossenschaft und die Erfindung des Ruhrgebiets“ von Prof. Dr. Eva-Maria Roelevink und Dr. Lutz Budrass ist im transcript Verlag erschienen und auch als Open Access verfügbar. (ISBN: 978-3-8376-7431-6)
Am 14. Dezember 1899 wurde im Bochumer Ständehaus die Emschergenossenschaft gegründet, um die Abwassermisere im Ruhrgebiet in den Griff zu bekommen.
Die noch kurvenreiche Emscher in Dortmund im Jahr 1912: Überschwemmungen gehörten zur Tagesordnung. 13 Jahre zuvor war die Emschergenossenschaft gegründet worden mit dem Ziel, solche Bilder in Zukunft zu verhindern.
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